Am 11. Juni 2025 verbreitete der Erhard Eppler Kreis innerhalb der SPD ein Manifest, das sich anschickt, alternative Wege zu Frieden und Stabilität in Europa aufzuzeigen. Die mediale Resonanz war groß.
Ich möchte hier meine persönlichen Gedanken zum »Manifest« entwickeln.
Unter den Erstunterzeichner:innen sind kluge und intelligente Menschen, die ich persönlich sehr schätze und deren Meinungen und Urteile ich oft teile. Umso mehr schmerzt es mich, einen solch naiven, revisionistischen und geschichtsvergessenen Text von ihnen zu lesen.
Der Text beginnt stark, mit einer Aussage, die ich sofort unterschreiben würde:
80 Jahre nach Ende der Jahrhundertkatastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Hitler-Faschismus ist der Frieden auch in Europa wieder bedroht.
Wir erleben neue Formen von Gewalt und Verletzung der Humanität: Der russische Krieg gegen die Ukraine, aber auch die fundamentale Verletzung der Menschenrechte im Gaza-Streifen.
Die soziale Spaltung der Welt wird tiefer, in den Gesellschaften und zwischen den Gesellschaften. Die vom Menschen gemachte Krise des Erd- und Klimasystems, die Zerstörung der Ernährungsgrundlagen und neue Formen von Kolonialismus um Rohstoffe bedrohen den Frieden und die Sicherheit der Menschen.
Nicht zuletzt versuchen Nationalisten Unsicherheiten, Konflikte und Kriege für ihre schäbigen Interessen zu nutzen.
Ungefähr dort hört auch meine Zustimmung zum »Manifest« auf:
[…] Von einer Rückkehr zu einer stabilen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa sind wir weit entfernt. Im Gegenteil: In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten haben sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen. Frieden und Sicherheit sei nicht mehr mit Russland zu erreichen, sondern müsse gegen Russland erzwungen werden. […]
Dieser Aussage liegt ein Irrglaube zugrunde. Wir wissen heute: Es gab nie Frieden und Sicherheit »zusammen mit Russland«.
Russland hat spätestens seit den frühen 2000er Jahren darauf hingearbeitet, die postsowjetische Friedensordnung zu unterminieren. Wer sich einredet, zwischen 1999 und 2022 lag eine Zeit der Stabilität, der täuscht sich selbst. Es war eine Zeit, in der wir die Augen verschlossen haben vor unbequemen Wirklichkeiten.
[…] Der „Kalte Krieg“ war geprägt von gegenseitigem Misstrauen und militärischer Konfrontation der Führungsmächte in Ost und West. Der Präsident der USA John F. Kennedy, Willy Brandt und andere führende Politiker der damaligen Zeit haben die richtigen Konsequenzen aus der in der Kuba-Krise offensichtlich gewordenen gefährlichen Perspektivlosigkeit dieser Rüstungsspirale gezogen. […]
Korrekt, aber diese Abrüstung und diese Gespräche fanden stets aus einer Position der Stärke heraus statt. Deutschland hat in jener Zeit 3% des BIP für Verteidigung ausgegeben und hatte das größte Feldheer Westeuropas. Nur durch diese Kulisse und durch diesen Kontext wurden doch erst Gespräche ermöglicht!
[…] In Helsinki wurden zentrale Prinzipien der europäischen Sicherheit durch einen friedlicheren Umgang der Staaten miteinander vereinbart: Die Gleichheit der Staaten unabhängig von ihrer Größe, die Wahrung der territorialen Integrität der Staaten, der Verzicht auf gegenseitige Gewaltandrohungen, die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Verzicht auf die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten wie auch die Vereinbarung umfassender Zusammenarbeit. […]
Und genau diese Prinzipien tritt Russland seit den 2000ern mit Füßen, spätestens seit dem Kaukasuskrieg.
[…] Heute leben wir leider in einer anderen Welt. Die auf den Prinzipien der KSZE Schlussakte basierende europäische Sicherheitsordnung wurde schon in den letzten Jahrzehnten vor dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine immer mehr untergraben – auch durch den „Westen“ – so etwa durch den Angriff der Nato auf Serbien 1999, durch den Krieg im Irak mit einer „Koalition der Willigen“ 2003 oder durch Nichteinhaltung der 1995 bekräftigten nuklearen Abrüstungsverpflichtungen des Atomwaffensperrvertrags, durch Aufkündigung oder Missachtung wichtiger Rüstungskontrollvereinbarungen zumeist durch die USA oder auch durch eine völlig unzureichende Umsetzung der Minsker Abkommen nach 2014. […]
Spätestens hier disqualifizieren sich die Autor:innen selbst. Den Angriff Russlands auf die Ukraine mit der NATO-Intervention in Serbien gleichzusetzen, ist an Zynismus nicht zu übertreffen. Auch der Irakkrieg, dem eine echte Legitimation fehlte, ist nicht mit einem brutalen Angriffskrieg zu vergleichen, dessen Ziel es ist, eine ganze Nation von der Landkarte verschwinden zu lassen. Den »Westen« auf eine Stufe mit Putins Russland zu stellen und der einhergehende Schuldrelativismus lässt mir die Worte im Hals stecken. Mir fällt es schwer, nachzuvollziehen, wie intelligente und geschichtskundige Menschen Russlands völlig unprovozierten Angriffskrieg so relativieren können.
[…] Vor echten vertrauensbildenden Maßnahmen braucht es deshalb zunächst kleine Schritte: die Begrenzung weiterer Eskalation, den Schutz humanitärer Mindeststandards, erste technische Kooperationen etwa im Katastrophenschutz oder der Cybersicherheit sowie die behutsame Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte. […]
Russland führt längst einen hybriden Cyberkrieg gegen Europa. Wie soll man mit jemandem kooperieren, der einen ständig angreift?
[…] Tatsächlich sind allein die europäischen Mitgliedsstaaten der NATO, selbst ohne die US-Streitkräfte, Russland konventionell militärisch deutlich überlegen. Militärische Alarmrhetorik und riesige Aufrüstungsprogramme schaffen nicht mehr Sicherheit für Deutschland und Europa, sondern führen zur Destabilisierung und zur Verstärkung der wechselseitigen Bedrohungswahrnehmung zwischen NATO und Russland. […]
Europa ist Russland keinesfalls »konventionell deutlich überlegen«! Allein die massive Aufrüstung Russlands und der Ausbau der Produktionskapazitäten in den letzten Jahren sind extrem alarmierend. Europa kann da nicht mithalten. Würde die Ukraine fallen und könnte sich Russland auf Osteuropa konzentrieren, wäre Europa derzeit konventionell unterlegen.
[…] Die Unterstützung der Ukraine in ihren völkerrechtlichen Ansprüchen muss verknüpft werden mit den berechtigten Interessen aller in Europa an Sicherheit und Stabilität. Auf dieser Grundlage muss der außerordentlich schwierige Versuch unternommen werden, nach dem Schweigen der Waffen wieder ins Gespräch mit Russland zu kommen, auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa. […]
Wie soll das gehen? Russland hat doch mehrfach gezeigt, dass es nicht an diplomatischen Lösungen interessiert ist. Während verhandelt wird, schießt, bombardiert und terrorisiert Russland weiter die Zivilbevölkerung in der Ukraine. Die Losung »wer redet, schießt nicht« gilt nicht.
[…] Wir brauchen eine defensive Ausstattung der Streitkräfte, die schützt ohne zusätzliche Sicherheitsrisiken zu schaffen. […]
Wie sieht eine Defensivwaffe aus? Ich verstehe nicht, wovon die Autor:innen hier sprechen und glaube auch nicht, dass sie technisch aufzeigen können, was sie damit meinen.
Das Einzige, was mir unter dieser Kategorie einfällt, ist eine gut funktionierende Luftverteidigung gegen Raketen, Drohnen, Flugzeuge und Helikopter. Für die Installation solcher wurden osteuropäische Staaten und die USA mehrfach von »Friedensaktivisten« und Russland kritisiert; es sei aggressiv, so etwas in der Nähe zur Grenze zu Russland aufzufahren.
[…] Keine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Die Stationierung von weitreichenden, hyperschnellen US-Raketen-Systemen in Deutschland würde unser Land zum Angriffsziel der ersten Stunde machen. […]
Genau diese Stationierung hat in den 1980ern dazu geführt, dass es die Vereinbarung von 1987 zwischen Gorbatschow und Reagan überhaupt erst gab.
Der Satz »Deutschland[…] zum Angriffsziel der ersten Stunde machen« entlarvt die Autor:innen. Geht es darum, Frieden zu sichern und Europa zu stabilisieren oder geht es darum, sich selbst in Sicherheit zu wägen, während man andere unter den Bus wirft? Solidarität funktioniert anders. Europa funktioniert nur, wenn wir zusammenstehen und uns nicht von äußeren Bedrohungen spalten lassen.
Das »Manifest« ist ein Dokument der Naivität und der Nostalgie nach einer Zeit, die es nie gab.
Ich bin es leid, dass der linke Flügel meiner Partei gleichgesetzt wird mit einer solch naiven und zynischen Russlandpolitik. Es gibt auch Linke in der SPD, die nicht glauben, man müsse Putin einfach nur genug ukrainisches Land geben, damit alles wieder so wird wie früher.
Putin ist ein Kriegstreiber. Er kann den Krieg in der Ukraine morgen beenden. Aber das wird er nicht tun, solange er glaubt, eine Chance zu haben, seine Ziele zu erreichen. Europa kann nur frei und unabhängig sein, wenn es sich gegen Kriegstreiber zu verteidigen vermag.
Die Geschichte Russlands ist eine tragische. Mich würde nichts mehr erfreuen, als Russland im Kreis des freien Europas aufzunehmen. In seiner jetzigen Form ist das jedoch auch durch alle Diplomatie und alle Gespräche der Welt nicht möglich, ohne alle Werte zu verraten, die uns zu einer freiheitlichen Demokratie machen.